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1992 - 2024
32 Jahre entwicklungspolitische Arbeit

 

Der Norden Paraguays - Estancias und Guerilla
von Hermann Schmitz † 30.03.2019
10.03.11     A+ | a-
Während in Asunción gerade der „Cuarto Foro Social de las Américas“, das vierte amerikanische Sozialforum, zu Ende ging, bleibt die Unsicherheit über den Gesundheitszustand von Präsident Fernando Lugo. Ob sein Blutkrebs nun harmloserer Natur und gut behandelbar ist, oder doch von der bedrohlicheren Sorte, dazu sind die Informationen widersprüchlich. Auf jeden Fall „kreisen schon die Geier über dem Regierungspalast“, wie uns unsere Freunde schreiben, und der bekannte argentinische Politologe Atilio Bordón warnte vor einem „institutionellen Staatsstreich“.
Der Gesundheitszustand Lugos und das rigorose Behandlungsprogramm biete dem herunter gekommenen paraguayischen Kongress den idealen Vorwand, den Präsidenten „legal“ abzusetzen, so seine Einschätzung. Dem paraguayischen Staatschef fehlte ja von Anbeginn die Kongressmehrheit, wodurch politische und wirtschaftliche Reformen beinahe unmöglich zu realisieren sind. Auch haben die gegen ihn nach wie vor laufenden Vaterschaftsklagen (eine davon anerkannt, zwei weitere stehen an) seiner Handlungsfähigkeit und Glaubwürdigkeit wenig gut getan.
Es wäre nicht das erste Mal, dass man sich auf diese Weise unliebsamer Präsidenten entledigt hätte  -  siehe Honduras und die „Absetzung“ von Präsident Zelayas. Und in der Tat: So „harmlos“ Lugos Veränderungen zugunsten der Elenden seines Landes auch sind im Vergleich etwa zu Venezuelas´ Chávez oder Boliviens Morales, und so widersprüchlich oft seine Regierungsführung  -  für die herrschende Klasse reicht es allemal, ihn loszuwerden zu wollen. Diese „herrschende Klasse“ wäre mit dem Begriff Oligarchie noch wohlwollend bedacht, es ist viel eher eine der schlimmsten Kleptokratien Lateinamerikas, deren Vertreter die unter ihrem obersten „Capo“, dem Diktator Alfredo Stroessner, ihre riesigen Vermögen aufgehäuft und das Land ausgeblutet haben (siehe folgenden Bericht).
Die Anwesenheit von Chávez und Morales und Uruguays Mujíca beim „Foro Social“ war vermutlich auch als Unterstützung für den Kollegen Lugo in einer kritischen Situation gedacht. Ob der überhaupt an dem großen Ereignis zuhause würde teilnehmen können, war nicht einmal sicher. Vier Tage war der Präsident zur Beobachtung und zur ersten Chemotherapie in São Paulo gewesen, wo er nach Auskunft seines Generalsekretärs M. López Perito  „mit dem Personal scherzte“. Es klappte dann doch und man erlebte einen auch auf dem Forumspodium heiteren Präsidenten  -   ob diese Stimmungslage anhält, darf sehr bezweifelt werden.

Der Schwerpunkt des „Foro Social“ war einem breit gefächerten „Austausch über alternative Erfahrungen und Strategien der sozialen Organisationen Südamerikas“ gewidmet. Ein weiteres Thema war die „Imperialistische Militarisierung und Beherrschung des Kontinents und die Alternativen des Widerstands seiner Bevölkerung“  -  die Formulierung hätte von Hugo Chávez sein können. Pikant, dass Gastgeber Lugo selber in der Kritik von (auch paraguayischen) Menschenrechtsorganisationen steht, er habe bei der Bekämpfung der Guerilla des „Ejército del Pueblo Paraguayo“ (EPP) im Norden des Landes eine weit überzogene militärische Intervention zu verantworten (siehe Bericht).
Gleichwohl war das Forum Ort eines „Solidarischen Aktes zur Unterstützung des ´paraguayischen Prozesses´“, und hier wurden auch die wenn auch kleinen Erfolge aus Lugos bisheriger Amtszeit benannt: Kostenloser öffentlicher Gesundheitsdienst, ein breites Unterstützungsprogramm für die ärmsten Familien des Landes, die „Säuberung“ bei der Polizei und die Festnahme wichtiger Drogenbosse. Dazu Erfolge bei der Neubewertung des paraguayischen Energieanteils aus dem Itaipu – Kraftwerk und die wirtschaftlichen Erfolge durch Export von Fleisch und vor allem Soja. Die enorme Ausweitung des Sojaexportgeschäfts wurde jetzt von Lugo ausdrücklich als großer Erfolg bezeichnet, es solle bald der Schritt hin zur „Industrialisierung“ der Soja im eigenen Land folgen. Hier tut sich ein innenpolitisches Konfliktfeld auf, denn die Ausweitung  des Sojaanbaus trifft auf immer heftigere Kritik seiner Gegner, und passend dazu erschien jetzt eine brandneue, umfangreiche argentinische Untersuchung zu den Erbschädigungen des in Paraguay überreichlich angewendeten Soja-Spritzmittels Glyphosat („Roundup“).
Die Guerilla im Norden, die ja von manchen Beobachtern als kleine Schwester der kolumbianischen FARC gesehen wir,  kündigt in einer gerade aufgetauchten Botschaft an, weiterhin „die Reichen zu bekämpfen....“  -  vielleicht erlebt Paraguay demnächst eine weitere Entführung.
Der neue kolumbianische Präsident Santos hat der heimischen FARC den Kampf auf seine Weise angesagt: Wenn die Guerilleros nicht endlich ihre Gesprächs- und Verhandlungsbereitschaft zeigten, gebe es auch für ihn keine pardon mehr. Wer die gerade gezeigte Dokumentation über die Entführung von Ingrid Betancourt gesehen hat und das dumpfe und brutale Vorgehen der FARC, kann sich nur wünschen, dass auch dem Spuk des paraguayischen Ablegers ein baldiges, hoffentlich unblutiges, Ende bereitet wird.

(Auch zu den beiden letzten Punkten siehe Bericht)

In Paraguays abgelegenen, vom Staat vergessenen Winkeln des nördlichen  Departaments Concepción treibt die wohl unbekannteste Guerilla auf dem Planeten ihr Unwesen: Der „Ejercito del Pueblo Paraguayo“ (EPP), das paraguayische Volksheer, entführt dort unter anderem Großgrundbesitzer. Hinter dem gewaltigen Namen verbirgt sich ein Trupp von höchstens zwei Dutzend „Kriegern für die Sache des Volkes“. Guerilla-Land  -  das bedeutet Armut, riesige estancias, Killer und Marihuana.

In Guerillaland ist die Erde rot und von unendlicher Weite, die Wege sind schön, aber in miserablem Zustand, sie sind gesäumt von ebenso roten, leuchtenden Termitenhügeln und vereinzelten Flecken dichten grünen Waldes. Vor allem aber mit estancias von enormer Größe, über einer Million Rinder und zig Tausenden von Hektar Land. Dort weiß niemand genau, welches Gesetz gilt: Das des Staates oder das des Großgrundbesitzers. Dort, in einem der verbliebenen dichten Urwaldzonen, befand sich 93 Tage der Großgrundbesitzer Fidel Zavala, angekettet unter einer dichten schwarzen Plastikplane, bis ihn seine Familie im Januar schließlich frei kaufte  -  mit 350.000 Dollar, in zwei Beuteln aus einem Flugzeug geworfen. Die Abwurfstelle war mit GPS fest gelegt worden  -  Hightech in einem archaischen Landstrich mit Revoluzzern vorgestriger Ideologien. Ebenfalls hier, im Örtchen Tacuatí mit seiner riesigen gleichnamigen estancia, war schon im Juli 2008 der Viehzüchter Luis Lindstrom entführt worden, der 400.000 Dollar für seine Freilassung gezahlt hatte.In dem Kaff mit Namen Huguá Ñandú, wenige Kilometer entfernt, griffen die Kämpfer der EPP eine elende Polizeistation an, steckten sie in Brand und verletzten zwei Polizisten.
Der Innenminister Rafael Fillizola konnte nie ganz den Verdacht ausräumen, dass seine Sicherheitskräfte  -  vor allem die berüchtigte FOPE (Fuerza de Operaciones Especiales = Einheit für Sonderaufgaben)  -  im Zuge ihrer „Säuberungsmaßnahmen“ massive Menschenrechtsverletzungen begehen. Manch einer sah den EPP gar als Erfindung des Staates, um unter dem Deckmantel des „Kampfes gegen den Terrorismus“ unliebsame soziale und Campesinoorganisationen einzuschüchtern und deren Führer mundtot zu machen. Tatsächlich hat es viele ungesetzliche Übergriffe gegeben, die aus diesem „vergessenen Norden“ kaum an die Öffentlichkeit dringen. Aber kein einziger aus der kleinen Gruppe der EPP wurde gefasst, die Guerilleros spielten Katz und Maus mit ihren Jägern. Weit schwerer wog der Verdacht gegen den Präsidenten selber, er habe persönlich und politisch mit der EPP zu schaffen   -   und so merkte man Lugo  Ende Juli in einer Pressekonferenz geradezu seine Erleichterung über die „Ausschaltung“ von Severiano Martínez an, Hauptfigur der EPP.

Martínez war schon über Wochen von den Jägern der Guerilla regelrecht eingekesselt, sein Bewegungsspielraum war immer kleiner geworden, seine Überlebenschancen in den wechselnden Verstecken ohnehin gering aufgrund von Hitze, zuletzt grimmiger Kälte, Nahrungsmangel und Verletzungen, als er am 28. Juli aufgespürt wurde. Der als Scharfschütze gefürchtete langjährige Guerillaführer soll sofort das Feuer eröffnet haben und sei dann selber erschossen worden. „Wir haben damit unser seinerzeit gegebenes Versprechen bekräftigt, diese Verbrecher auszuschalten, damit das paraguayische Volk endlich wieder in Frieden und ohne Angst leben kann. Damit ist auch der Verdacht, diese Regierung mache gemeinsame Sache mit der EPP, eindeutig widerlegt“, so Lugo auf einer Pressekonferenz. Von der eigenen Menschenrechtsorganisation „Comisión de Derechos Humanos del Paraguay“ musste der Präsident sich den Vorwurf gefallen lassen, mit seiner Formulierung von der „erwarteten Ausschaltung des EPP-Anführers“  dessen gezielte Tötung gebilligt zu haben, anstatt alles daran zu setzen, ihn in rechtstaatlicher Weise festnehmen und vor Gericht bringen zu lassen.

Doch zurück zum „Wilden Norden“. Es ist nicht nur der Landstrich, in dem sich die Guerilla bewegt, es ist vor allem das Land von großen Firmen wie der Cipasa und ihrem argentinischen Besitzer, einem Grundstückshai mit über 400.000 ha Landbesitz mit 300 km eingezäunter Außengrenze. Nichts Außergewöhnliches in einem Land mit der wohl ungerechtesten Landverteilung weltweit, in dem seit mehr als einem Jahrhundert die jeweiligen Regierungen ihren Freunden Land schenkten oder es verscherbelten. Die paraguayische „Wahrheits- und Gerechtigkeitskommission“ schätzt, dass seit 1954, dem Jahr der Machtergreifung des Diktators Alfredo Stroessner, zwei Drittel der Landzuteilungen illegal waren: Hunderttausende Hektar verschleuderten Staatsbesitzes, Zehntausende vertriebener und geschundener campesinos.

Die Bemühungen, aus Paraguay wieder ein halbwegs normales Staatsgebilde zu machen, sind erst jüngeren Datums  -  und sie sind ebenso zäh wie mangelhaft. Sie beginnen praktisch mit der Wahl Fernando Lugos zum Präsidenten im Jahr 2008, denn wenn auch die Stroessnerdiktatur schon 1989 beendet wurde, so änderten doch die ersten Jahre der „transición hacia la democrácia“, der sogenannten Übergangsphase zur Demokratie, so gut wie gar nichts an der Situation im Land. Andrés Rodríguez zum Beispiel, erster aus halbwegs freien Wahlen hervor gegangener Präsident, der Stroessner stürzte und aus dem Land jagte (nachdem dieser ihm seine zum Zwecke der Geldwäsche unterhaltenen Wechselstuben dicht machte), besaß bereits Tausende von Hektar illegalen Landes und nutzte seine Amtszeit, um sich weitere Tausende unter den Nagel zu reißen.

Dieser sogenannte „erste demokratische Präsident“ war freilich aus Sicht der Vereinigten Staaten vor allem der Chef des paraguayischen Drogenkartells, und er war, wie schon zuvor Stroessner, vornehmlich damit beschäftigt, die Drogen - und anderen berüchtigten Schmugglerbanden zu schützen, die im Land operierten. Was sie bis heute beinahe ungehindert tun. Ciudad del Este an der „Triple Frontera“ zwischen Brasilien, Argentinien und Paraguay ist das Auge des Hurrikans inmitten eines enormen  Schmuggelgeschäfts, betrieben in großem Stil im Verborgenen  -  und ganz offen am helllichten Tag mit ganzen Motorradflotten, die wie Hornissenschwärme die Schmuggelware ihrer Kunden über die Brücke der Freundschaft fahren. Die Zollbeamten werden geschmiert, das ist in Paraguay das Normalste von der Welt.In dieser hässlichsten aller Städte präsentieren sich nicht nur riesige Geschäfte und Supermärkte, welche   die gewaltigen Mengen der Schmuggelware   wieder ausspucken. Es treffen sich hier auch Spionageagenten aus aller Herren Länder, Waffen- und Drogenhändler, Geldwäscher und Schieber sowohl von Sachen als auch von Informationen. Und alle zusammen agieren sie auf diesem so willfährigen paraguayischen Territorium wie Fische im Wasser.

Dort schnappten die Nordamerikaner am 15. Juni 2010 einen der mutmaßlichen Finanziers der Hisbollah, Moussa Alí Handan, ein Libanese, der jetzt auf seine Auslieferung wartet. Einen Tag später war zu erfahren, dass wieder einmal einer  der direkten Frachtflüge abhob, die in 14tägigem Rhythmus millionenschwere elektronische und Informatikware zwischen Shanghai und Ciudad del Este befördern. Zweieinhalb Milliarden Dollar werden da pro Monatbewegt, allein in dieser Stadt. Das scheint so gar nichts zu tun zu haben mit Concepción, San Pedro oder Amambay, den landwirtschaftlichen departamentos im Norden, wo man wie unberührt von diesem anderen Paraguay lebt, und wo es niemanden zu interessieren scheint, was dort im Osten an der „Brücke der Freundschaft“ passiert.Hier oben, wo es weder Supermärkte noch richtige Straßen gibt, sondern nur winzige Kramläden und rote Wege, unbewohnte Flächen und weites Grasland, das wenigen Viehbetrieben gehört. In ihrer Mehrzahl sind sie in der Hand brasilianischer Privatbesitzer oder von legendären Unternehmen, die sich keinem Gesetz unterordnen  -  wenn es nicht das selbst erlassene ist. In vielen der großen estancias leben die wenigen Arbeiter, die benötigt werden, mit ihren Familien auf dem Besitz selber, in kleinen Hütten beim Haus des Vorarbeiters oder sogar neben dem großen, meist unbewohnten, Chalet des Besitzers.

Sie bekommen Essen, Treibstoff, ein Dach über dem Kopf, einen „kleinen Lohn“ und haben äußerst rigide Arbeitszeiten: Sogar an Sonntagen, wenn sie ihren Nachbarn Besuche abzustatten pflegen oder sich in Fans irgendeiner kleinen lokalen Fußballmannschaft verwandeln, müssen sie den Zaun zur estancia vor Eintritt der Dunkelheit passiert haben. Unsere Fahrt führte uns von Asunción aus also in jenen paraguayischen Norden  -  über eine richtige Asphaltstraße, in der allerdings auch nach wenigen Jahren die Korruption schon ihre Schlaglöcher hinterlassen hat. Über Santaní  -  zu Stroessners Zeiten noch San Estanislao  -  Lima und Santa Rosa erreichen wir den Abzweig Yby Yahú, ein unsäglich trister Ort mit einem unaussprechlichen  Namen, der nicht viel mehr bietet als die Alternative, die Fahrt linker Hand nach Concepción fortzusetzen oder nach rechts in Richtung Pedro Juan Caballero an der brasilianischen Grenze.

Mit unserem mickrigen Suzuki sind wir seit sechs Stunden unterwegs, der paraguayische Freund Elvio, der mit uns die estancia seines reichen Arbeitgebers besuchen will, ist mit  seinem soliden Toyota zwei Stunden später los gefahren. Er hat gut kalkuliert, schon kurz nach uns biegt er in die schmuddelige Tankstelle ein,  an der wir uns verabredet haben, und gemeinsam setzen wir die Fahrt fort. In Cruce Bella Vista ist der Asphalt zuende, wir folgen der zwar breiten, aber waschbrettartigen harten Piste etwa 100 km in Richtung auf den gleichnamigen Ort an der nördlichen Grenze zu Brasilien. Es beginnt schon dunkel zu werden, nach Westen hin  benutzen wir ab jetzt nur noch Privatwege. Wenn auf einer normalen Straßenkarte Paraguays mit kleinem Maßstab der Name einer estancia eingetragen ist, kann man davon ausgehen, dass sich ihre Hektargröße nach Zehntausenden bemisst. So auch im Falle der „Santa Rosalia“, auf deren Gelände wir nun kommen, um Durchfahrt zu „unserer“ estancia zu erbitten  -  die Genehmigung muss vorab von Asunción aus per Funk an die estancia avisiert und die „Straßenbenutzungsgebühr“ an Ort und Stelle bezahlt werden. Es ist jetzt stockfinster, auch weil ein Unwetter aufzieht, dessen Feuerwerk an Blitzen aber regelmäßig das Wageninnere erhellt, sodass man, wenn man schnell genug ist, sogar auf der Karte etwas nachsehen kann.

Am Eingangsgatter zur estancia Santa Rosalia (wieder so ein seliger Name für einen vermutlich unseligen Besitz) erwartet uns ein Reiter, der vom capataz, dem Vorarbeiter, abkommandiert wurde, das mit einem mächtigen Schloss und Kette versehene Gatter zu öffnen und den Wegezoll zu kassieren. Noch regnet es nicht, aber er hat schon den schweren, schwarz glänzenden Kapuzenüberwurf an, der ihn auf seinem ebenso dunklen Gaul fast unsichtbar macht. Ohne ein überflüssiges Wort zu verlieren, kassiert er die 50.000 guaraníes für seinen Chef und öffnet das Tor.Erst auf der Rückfahrt erfahren wir, wer sein Chef ist: Die riesige Viehfarm gehört einem ehemaligen Präsidenten, auch der hat seine Regierungszeit gut genutzt. Wir werden von seinem mayordomo, dem Verwalter, herum geführt.

Er zeigt uns stolz, als gehörten sie ihm, die Einrichtungen, unter anderem die asphaltierte Landepiste, wo nicht nur der Privatjet des Besitzers, sondern wohl auch so manche Cessna mit Schmuggelware schon gelandet ist, um von hier ihren geheimen Weg nach Brasilien fortzusetzen.  Das „Herrenhaus“ ist wohl an die hundert Meter lang und hat zwanzig Räume. Den Besuchern gegenüber ist der estanciero ein verschwenderischer Gastgeber  -  wie alle Neureichen Paraguays protzt er gern mit seinem Besitz. Dabei stört ihn nicht, dass jedermann laute Vermutungen darüber anstellt, wie er solchen Reichtum angehäuft hat: Seine Spezialität sei der betrügerische Straßenbau gewesen-  neben dem Schmuggelgeschäft, versteht sich. „El dueño es muy católico“, zeigt uns der Verwalter voller Ehrfurcht die Privatkapelle des „sehr katholischen Chefs“  -  und darin dessen Sammlung von Jungfrauenstatuen.

Als wir die Fahrt fortsetzen wollen, bricht das Unwetter los, mit einer solch elementaren Wucht, dass zunächst an eine Weiterfahrt nicht zu denken ist  -  schon gar nicht mit unserem windigen Suzuki .... Der hat aber immerhin einen Vierradantrieb -  und das gibt jetzt den Ausschlag! „Wir müssen die 37 km bis zur ´Santa Cecilia´ schaffen, bevor der Weg völlig unpassierbar ist!“, entscheidet der ortskundige Elvio, „sonst müssten wir in den Autos übernachten, und morgen früh kämen wir weder vor noch zurück.“

Mein Ehrgeiz, selber den Wagen durch das Inferno zu steuern, erlischt nach wenigen Kilometern: Der Toyota ist doppelt so schnell, und ich bin mir oft nicht einmal sicher, ob ich überhaupt noch auf der Piste bin. Also übernimmt ein Mitfahrer Elvios das Steuer, und wir erleben, was in einem alten Vitara noch an Leben steckt. Und ich sehe, wie jemand, der mit dieser Gegend und ihren Bedingungen vertraut ist, „mein Auto“ besser beherrscht als ich. Siebenunddreißig Kilometer jagen wir über eine meist gerade Piste im Wettlauf mit dem Unwetter, vor allem dem Regen, durch die Nacht, über den immer weicher werdenden Lehmboden rutschend, und bei so manchem der kaum erkennbaren Schlaglöcher knallen wir mit dem Kopf gegen die Autodecke. Mein Gott, was hält diese Karre noch aus! Und unsere Köpfe!

Siebenunddreißig Kilometer  -  das heißt aber auch, dass wir auf dieser Strecke nie das Gelände einer einzigen estancia verlassen! Jetzt haben wir eine Vorstellung davon, was Großgrundbesitz bedeutet. Am nächsten Morgen präsentieren sich die Wege wieder ganz passabel.Wir schaffen es rechtzeitig. Aus dem Niemandsland tauchen die spärlichen Lichter der estancia auf, man hatte uns schon das Tor geöffnet, und wir waren sehr versöhnt mit den Annehmlichkeiten, die sich wie eine Wundertüte mitten in dieser Wildnis auftaten, es entsteht in unseren Köpfen allmählich das Bild von einer „guten estancia“.

Die Temperaturen waren, wie so oft in Paraguay, in wenigen Stunden um 20 Grad  gesackt, und wir genossen die heiße Dusche und das warme Bett. Und vorher sogar noch ein Abendessen, der mayordomo der Santa Cecilia und seine Frau waren wach geblieben und versorgten uns mit Fleisch und einer warmen Suppe. Die beiden sind die wichtigsten Angestellten der estancia, auf sie will der Besitzer, der sich meist in der Hauptstadt aufhält und sich nur selten auf seinem Besitz sehen lässt, sich unbedingt verlassen können. An erster Stelle wacht er über den Einsatz der acht Angestellten auf der Santa Cecilia. Seit kurzem kann das Personal sogar vom Büro in Asunción aus kontrolliert werden  -  wie das?! Auf der 12 Meter hohen Antenne vor der oficina der estancia ist eine Kamera angebracht, die auch nachts die Bewegungen der Leute über eine weite Entfernung auf einen Bildschirm bringt.
 
„Videoüberwachung“ in diesem entlegenen Winkel, und dann kommt auch mein Notebook in Hochform, denn auf einmal, die Antenne macht´ s möglich, kommen die Mails nur so angeschossen, auf die ich in Asunción vergeblich gewartet hatte. Radiofunk ist selbstverständlich, jeden Abend zu fest verabredeten Zeiten meldet der mayordomo die Vorkommnisse des Tages nach Asunción. Nicht genug der Technik: Zwei der Begleiter aus dem Toyota waren mit zur estancia gefahren, um deren Vermessung und Kartierung zu Ende zu bringen, danach wird es dort besseres Kartenmaterial als im „Geografischen Militärinstitut“ von Asunción geben  -  privat geht hier meistens vor Staat. Drei Wochen sind die beiden planvoll durch das Gebiet der estancia geritten  -  auch wir sind auf das Ergebnis gespannt und würden liebend gern eine Karte bekommen.

Das Erleben der estancia und ihrer Menschen und Tiere, ihrer Arbeitsabläufe und ihres quasiautarken Existierens nach eigenen Gesetzen  -  und das in nahezu menschenleerer und noch recht „unzivilisierter“ Umgebung  -   ließen alle Vorbehalte, alles „politisch Korrekte“ in Bezug auf solch üppigen Privatbesitz eine ganze Weile in Vergessenheit geraten. Der nicht anwesende Besitzer erfuhr auf telepathischem Wege ein Stück Genugtuung durch uns Besucher, die ansonsten bei jeder Diskussion wacker auf ihn schimpfen würden. Ja  -  das ging bis zu Regungen wohlwollender Identifikation, wenn auf einmal die Viehdiebe nicht als nur arme Hungerleider und somit Mundräuber, sondern als Schädiger „unseres estancieros“ empfunden wurden. Eine so große und ebenso nach alter Tradition wie mit modernem Management geführte Farm inmitten einer trotz Raubbau immer noch eindrucksvollen Natur: Da kann das Weltbild ins Wackeln geraten .......
 
In gebührender Entfernung von den Gehegen der estancia, in denen die jungen Rinder gehalten werden, leben auch kleine indianische Gemeinschaften in ihrem Elend, gleichsam „eingefroren“ inmitten der enormen Farmen und in strohgedeckten Holzhütten mehr schlecht als recht vegetierend, ohne irgendeine Unterstützung, von wem auch immer. Zum Überleben hilft ihnen manchmal nur das „Organisieren“ eines Tieres aus einer Viehherde, die nach Tausenden Köpfen zählt. Der estanciero hat nun einen Aufseher angestellt, der bei leisestem Verdacht sofort schießen „darf“, wenn er eine fremde Person auf dem Gelände antrifft  -  Privatbesitz ist das Allerheiligste in Paraguay, bei seiner Verletzung ist (fast) alles erlaubt.

Da präsentiert der Wachmann der estancia Santa Eulalia dem mayordomo  seinen jüngsten Fang: Bei seinem Rundritt hatte er eine durch drei Gewehrkugeln angeschossene Kuh entdeckt. Nachdem er dem Tier mit seiner Pumpgun den Todesschuss gegeben hatte, schnappte er sich den erstbesten Indigenen, den er unweit der Fundstelle nahe bei dessen Dorf auftrieb. Einen gerade mal sechzehnjährigen Jungen, gegen den er nicht  den geringsten Beweis hatte. Da er aber nach „Leistung“ bezahlt wird, will er ihn dem mayordomo als auf frischer Tat ertappten Viehdieb präsentieren, um die Kopfprämie zu kassieren.Wir sind erregt und befürchten Schlimmes für den jungen Indio. Aber der mayordomo belässt es bei einer beinahe väterlichen Ansprache, ob er dabei die Zuschauer aus Alemania berücksichtigt, bleibt im Dunkeln. Er ermahnt den Jungen streng, den er zu kennen scheint, schließt auch seine Täterschaft nicht aus und ordnet an, ihn zu seinem Dorf zu bringen und den cacique, den Stammeshäuptling, zu unterrichten. Ein Pickup bringt den völlig Verschüchterten bei einsetzender Dunkelheit weg, immer noch in Fesseln und in Begleitung des Wachmannes mit Knarre.


Das Gesicht des Jungen verfolgt uns noch eine ganze Weile. Derweil haben sich zwei des Schlachtens und Kühezerlegens kundige Männer der estancia um das Corpus Delicti bemüht und seine Verzehrstauglichkeit festgestellt. Nur der ansonsten sehr begehrte Kuhschädel mit seinem leckeren Innenleben  ist von der letzten Ladung der Pumpgun so zerschmettert, dass er mit Bedauern entsorgt werden muss. Wir essen noch am selben Abend von dem Tier, die gauchos bei ihrer ersten Mahlzeit um halb sechs, mit deren Zubereitung die Köchin oft schon um drei Uhr begonnen hat. „Comida fuerte“  -  kräftiges Essen zum Frühstück  -  wir werden in den nächsten Tagen erleben, warum der estanciero am Essen nicht spart und dass eine derart solide Grundlage für die Schwerstarbeit auf einer estancia auch in seinem Interesse liegt. Satteln bei Tagesanbruch, die Aufgaben für den Tag sind schon verteilt: Pfosten setzen, Vieh treiben, Soja-Aussaat vorbereiten etc. Heute kommt außerdem der veterinario zum Feststellen der  trächtigen Tiere und zu fälligen Impfungen..... und noch vieles mehr steht an. Zwei Stunden dauert die Fahrt über das Estanciagelände mit dem mayordomo zum kleinen Polizeiposten in der nächsten Ortschaft, wo er  -  wieder einmal  -  einen Viehdiebstahl anzeigen will. Als wir in das traurige Kaff  kommen und erst recht den  dubiosen Vertreter der Staatsgewalt erblicken, ahnen auch wir die Vergeblichkeit einer solchen Anzeige. Den Polizisten wecken wir, er kritzelt lustlos ein Formular voll, der mayordomo hat seine Pflicht getan ......

Die Rückfahrt auf dem offenen Pickup bringt Kühlung und eine gute Sicht auf dieses wegen seiner niedrigen Einwohnerzahl und geringen Siedlungsdichte riesig wirkende Land, das ein paar Hundert Raffgierige unter sich aufgeteilt haben, während diejenigen, die es dringend zum Überleben brauchen würden,  in die Elendsviertel der Hauptstadt getrieben werden  -  oder bis nach Argentinien oder gar Spanien. Fast noch schlimmer als die Rodungsfläche ist das Bild von dem einzelnen Urwaldriesen. Später sieht es dann so aus: Ein riesiges Feld für den Anbau genmanipulierter Soja ist aufgebrochen worden. Der estanciero will am Boom der Soja teilhaben, der auch Paraguay wie ein Goldrausch erfasst hat, inzwischen lohnt es sich schon, auch kleinere Flächen mit dem Devisenbringer zu bepflanzen.

Das kleine Paraguay ist  -  kaum zu glauben  -  viertgrößter Exporteur der gelben Bohnen, mit einer folgenreichen Entwicklung: Immer weniger Flächen für landlose Kleinbauern, Umweltzerstörung und Abholzung, Gesundheitsschäden durch die giftigen Sprühmittel, u. a. m. Ein paar hundert sojeros, vor allem aber die Saatgutmultis sind die Gewinner. Würde doch wenigstens der Staat auch zu ihnen zählen  -  doch die Einnahmen sind denkbar dürftig, weil es die Sojamafia versteht, die Abgabe pro Tonne Soja auf dem mit Abstand niedrigsten Stand zu halten, in Brasilien z. B. sind sie viermal so hoch. Dennoch braucht der paraguayische Staat die paar Millionen. Nach den Aufregungen des Tages und beim Genießen der abendlichen Entspannung unter den Ventilatoren der Veranda verstehen wir, dass auch in Paraguay immer mehr estancias sich für Touristen öffnen, denen diese Art Urlaub zu gefallen scheint. Unser estanciero allerdings will davon nichts wissen. Die Entspannung fand an diesem Abend ein jähes Ende, als wir beim Wegräumen die Tarantel unter meinem Stuhl entdeckten.

Weitere Mitbewohner dieser Nacht auf der estancia: Die unter den Lichtern auf die herunter fallenden Insekten wartenden Kröten, die zum Leben erwachenden Ratten im Schuppen und die Geckos im Badezimmer  -  von den Mosquitos nicht zu reden....... Wie gesagt  -  „unser“ estanciero will keinen Nebenerwerb mit Touristen, er hat genug mit seinen 35.000 Köpfen Vieh. Schade, dass man diese Masse nicht einmal „auf einen Schlag“ sehen kann, wir müssen uns auf der Rückfahrt mit den verschiedensten Teilmengen begnügen, weit verstreut auf dem Latifundium, das wohl nicht einmal sein Besitzer in seinen Ausmaßen und Grenzen kennt.

Der Weg durch den „Hinterausgang“ der estancia bei Tage ist nicht weniger reizvoll als die nächtliche Hinfahrt. Hier oben gibt es eine Art Mittelgebirge, geradezu lieblich anmutend und nicht sehr häufig anzutreffen in Paraguay. Das deutsche Wanderherz regt sich, und man möchte am liebsten los laufen. Allein es mangelt an Wegen, ganz zu schweigen von Wanderwegen, dafür gibt es weder ein Wort in Paraguay noch eine Infrastruktur.

„Wandern“ ist für Ausländer,  insbesondere Deutsche.
An einem Außenposten der estancia treffen wir auf den Vorarbeiter Gómez, der beauftragt ist, mit drei Leuten etwa 150 tief in die Erde versenkte Pfosten aus eisenhartem Lapachoholz auszugraben, eine Knochenarbeit bei 35 Grad! Der estanciero braucht die Pfähle für ein neu zu errichtendes Viehgatter, der Lohn für die Arbeiter ist weit geringer als das Verwenden neuer Pfosten. Unsere Sympathien fangen an, das Lager zu wechseln.... So friedlich uns Gómez begegnet, so freundlich sein Gesicht  -  der unvermeidbare Revolver steckt auch in seinem Gürtel, das Messer sowieso.

Ohne Waffen, die jedermann in diesem Land der violencia, der geradezu endemischen Gewalt, frei kaufen kann, fühlt sich der gaucho nackt. Sie sind nicht nur für den Einsatz gegen Viehdiebe gedacht, sondern werden auch gern und reichlich untereinander verwendet, wenn der 80% caña, der Zuckerrohrschnaps, ihre Dispute über Frauen, ihre Männlichkeit und ihre Ehre so richtig anheizt. Dann finden morgendliche Duelle an einer verabredeten Stelle auf irgendeinem roten Weg statt  -  bis einer übrig bleibt und vom anderen nur noch ein Wegkreuz. In Santa Rosa hat uns der Asphalt wieder, und hier findet unsere Empathie auch wieder ihren „richtigen“ Adressaten, als wir den friedlichen Protest der landlosen campesinos anfeuern und die aufgebotene Polizei als feindlich und zu jedem ungesetzlichen Übergriff bereit erleben.

Noch eine Stunde zuvor hatten wir diesen Strauß gefunden.
Nicht nur landlose campesinos scheitern an den Drahtzäunen, wenn auch nur im übertragenen Sinne  -  auch so manches Getier bleibt in den Drähten hängen wie dieser zum Tode verurteilte Strauß, den wir zwar befreien konnten, der aber nicht mehr auf die Beine kam. Das Bild des Riesenvogels und die Gesichter der beiden um ihr Existenzrecht kämpfenden Kleinbauern nahmen wir aus dem Norden mit nach Asunción  -  von der estancia blieben interessante und schöne Bilder. Der estanciero braucht uns nicht, die campesinos aber sind weiterhin auf unsere Solidarität angewiesen.

„Ich hasse die Reichen, die Großgrundbesitzer und Sojabarone nicht  -  ich will nur meinen kleinen Teil von diesem Land für meine Familie, vor allem für unsere Kinder! Dafür kämpfe ich, so lange es nötig ist“, sagt uns Doña Raquel im Protestcamp. Ihre ganze Person strahlt Würde aus, die ihr keiner nehmen kann, wohl aber braucht sie ihren Teil an diesem Riesenland von der Größe Deutschlands mit nur gut sechs Millionen E. An der für den Transport der Soja per Lastwagen gut ausgebauten Überlandstraße von Santa Rosa nach Asunción fahren wir an vielen dieser riesigen Sojasilos vorbei  -  den neuen Kathedralen Paraguays.

Ausbildungszentrum für ländliche Entwicklung (CCDA)

Hilfsverein Solidarität - Solidaridad

Fundación Vida Plena

Kinderstation Hospital Barrio Obrero

Fundación Celestina Pérez de Almada

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